Achtsamkeit und Gefühlsbetrachtung
Als erstes ist es wichtig zu erkennen, dass Gefühle selber keine Wertung
haben. Unangenehme Gefühle sind nicht schlecht, angenehme nicht gut.
Beide sind Bestandteile von menschlicher Erfahrung. Die Wertung gut
oder schlecht passiert nach der Schnittstelle zu den Gedanken. Dieser
Schritt passiert aber in der Regel so schnell, dass wir die grundlegenden
Gefühle überhaupt nicht mitbekommen und schwups, schon sind wir
dabei irgendwelche Strategien auszudenken, wie wir sie loswerden
können. Um dieses Muster zu erkennen haben wir die
Klarsichtsmeditation. Um überhaupt etwas ausrichten zu können, müssen
wir in Kontakt mit unserem Körper sein und spüren, was wir erleben und
was unsere Gedanken daraus machen.
Nehmen wir nochmals das Familienbeispiel des krebskranken Vaters. Der
Tag lief ganz schrecklich. Es ist klar, dass eine Chemo nichts mehr bringt,
aber er besteht darauf, es nochmals zu versuchen und auf das Wunder zu
hoffen. Du versuchst ihm zu erklären, dass dies auch gefährlich für ihn
sein kann und du Angst hast. Daraufhin ist Deine Mutter ärgerlich mit dir,
weil du den Vater unter Druck setzt und ihm Angst machst. Abends sitzt
du auf dem Kissen und bist verzweifelt. Was macht Dein Geist?
Carol Wilson vom IMS in Barre, USA, beschreib das mal so: der Geist
dehnt das Geschehen in die Ewigkeit aus und am Ende kreiert er immer
das Worst Case Szenario. Im obigen Beispiel stirbt Sein Vater vermutlich
unter der Chemo und deine Mutter ist für den Rest deines mit dir
verkracht, während du es dir selber nicht verzeihen kannst, dass du es
nicht verhindern konntest. Das gute an der Achtsamkeitsmeditation ist,
man merkt diese destruktiven Gedanken und kann sie auf ihren
Wahrheitsgehalt überprüfen und zurück zum Augenblick kommen. Wenn
man das immer wieder während der Meditation macht, merkt man diesen
Geistesprozess bevor man ein psychisches Wrack ist und sich schon mal
für die schrecklichen Diskussionen in der Familie wappnet.
Wenn man sich vornimmt, immer wieder zum Augenblick
zurückzukehren, dann wird einem dieser Vorsatz helfen zu merken, wenn
man abdriftet. Wenn wir es dann merken, können wir uns gratulieren,
denn wir haben schon wieder einen Schritt auf dem Weg zur inneren
Heilung geschafft und nicht den alten Mustern nachgegeben.
Am Anfang kostet es in der Meditation etwas Disziplin, auch zum
Meditationsobjekt zurückzukehren, da Situation um das Altern und
Sterben oftmals sehr angstbeladen sind. Nichts macht unseren Geist mehr
kirre, als existentielle Angst. Mit der Zeit merken wir dann aber, dass
unser Drang Situationen bis zum Ende durchzudenken, ein Ausdruck von
Angst ist und wir kommen in Kontakt mit uns selber, frei von Projektion.
Wenn wir dann mutig sind, können wir Prabassadhamma Roshis Frage
stellen: woher weiß ich, dass ich Angst habe? Wie fühlt sich Angst an? Wo
in meinem Körper manifestiert sich das Gefühl Angst? Mit der Zeit
merken wir, dass wir das aushalten können, ohne es loswerden zu müssen
oder ein Drama daraus fabrizieren. Denn genau das ist es, was am Anfang
dieses Artikels steht: vi-bhava tanha, der Wunsch, diese Angst
loszuwerden, oder wenigstens nicht zu spüren. Es ist dann eigentlich erst
mal gar nicht wichtig, wovor wir Angst haben. Aller
Wahrscheinlichkeit nach läuft es darauf hinaus, dass wir Angst vor dem
Sterben haben, denn das ist das worst case Szenario unseres Egos,
sondern wir können neugierig sein, wie sich dieser Ausdruck unseres
Lebens anfühlt, ohne ihn zu Kategorisieren, zu bewerten, zu bekämpfen.
Das sind wir, unser Leben. Der dritte Zen Patriarch in China schreib
folgendes am Anfang eines langen Gedichts:
Der Höchste Weg ist nicht schwierig Für jene ohne Vorlieben.
Wenn weder Anhaftung noch Abneigung vorherrschen, ist alles klar
und offenbar.
In diesem Sinne ermutige ich euch, wenigstens ab und an inne zu halten
und die Situationen in eurer Familie mit der Klarblicksmeditation zu
betrachten. Wenn ihr nie eine ordentliche Einführung hattet, fragt Eure
Lehrerin danach oder lest vielleicht ein Buch, z.B. Joseph Goldsteins
Vipassana.
Vortrag als Download:
Gefühlsbetrachtung und
Achtsamkeitsmeditation,
in der Sterbebetreuung (pdf)